Spiegelkind

Kindergeschichten

Spiegelkind

Lisanna war ein hübsches junges Mädchen. Fröhlich und unbeschwert, mit vielen Sommersprossen auf ihrer kleinen Stupsnase und langen schwarzen Haaren. Und aus ihren wunderschönen tiefblauen Augen schaute sie immer zu Streichen aufgelegt in diese Welt hinein.

Jeder mochte sie gerne leiden wegen ihrer Hilfsbereitschaft, ihrer unkomplizierten Art die Welt zu entdecken, ihres lustigen fröhlichen Wesens und ihrem glockenhellen Lachen. Wenn dieses zauberhafte Lachen über die Wiesen schwebte, waren dies unvergessliche Momente des Glücks.
Sie hatte viele Freunde und Freundinnen und genoss ihr Leben. Am liebsten aber rannte sie an warmen Sommertagen über die Wiesen ihrer Heimat. Barfuß, um das kitzelnde Gras unter ihren Füßen zu spüren. Oder sie setzte sich an den kleinen See, fühlte die wärmenden Strahlen der Sonne und beobachtete, wie die sanften leichten Wellen des Wassers ihr Spiegelbild im Wasser sanft bewegten. Es war schön, ihr Leben, und sie liebte es.
Natürlich gab es hin und wieder auch Dinge, über die Lisanna sich aufregte. Kleinere Streitereien, Ärger mit dem Lehrer oder wenn sie lieber draussen rumtollen wollte, statt im Haushalt zu helfen. Doch das alles vergaß sie schnell wieder in ihrer unbeschwerten Art, wenn sie alleine oder mit anderen über die Wiese rannte oder im See schwimmen ging. Und wenn ihr bezauberndes glockenhelles Lachen erschallte, war ihr niemand mehr böse. Ja, ihr Leben war schön.

Doch irgendwann geschah etwas seltsames.
Zu ihrem 15ten Geburtstag hatte sich Lisanna einen großen Spiegel gewünscht und in diesem betrachtete sie fortan jeden Tag ihr Spiegelbild.

Drehte sich und tanzte vor dem Spiegel, während sie hineinschaute und veränderte sich ganz allmählich. Sie fing an ihre Sommersprossen zu zählen, betrachtete sich ganz genau im Spiegel und wurde ernst und irgendwie traurig. Lisanna regte sich über Kleinigkeiten auf, nichts war ihr mehr recht und nur noch selten erklang ihr wunderschönes Lachen über die Wiesen. Sie fing an ihre wunderschönen schwarzen Haare zu färben: Mal rot, mal blond und dann grün. Doch nichts von alledem gefiel ihr. Lisanne wurde immer unzufriedener mit ihrem Leben, obwohl es sich eigentlich überhaupt nicht verändert hatte. Nur sie selber, Lisanna veränderte sich immer mehr.
Immer öfter schaute sie in den Spiegel und schrie ihr Spiegelbild an:
“Du bist fett” oder “Du bist viel zu mager” oder “hässliche Sommersprossen”
An allem meckerte sie rum, machte keine Hausaufgaben mehr, schrie ihre Familie und die Freundinnen grundlos an, schloss sich alleine in ihrem Zimmer ein, um sich im Spiegel zu betrachten.
Und nach und nach wurde aus dem fröhlichen unbeschwerten Mädchen ein launisches, unzufriedenes und einsames Mädchen, das ihre Leben und sich selbst hasste.
Sie verlor ihre Freundinnen, fühlte sich in ihrer Familie nicht mehr wohl und niemand konnte es verstehen. Und sie verlor ihr wunderschönes glockenhelles Lachen.
Lisanna rannte immer noch über die Wiesen. Doch in Turnschuhen und als wäre der Teufel hinter ihr her. Mit traurigem und wütendem Gesicht. Sie aß kaum noch etwas, hatte ständig heftige Bauchschmerzen, wurde immer dünner und schrie ihr Spiegelbild an:
“Du bist hässlich, hässlich, hässlich. Ich mag dich nicht. Deine blöden Sommersprossen, deine blöden blauen Augen. Du bist fett, fett, fett.”
Obwohl Lisanna inzwischen so dürr und kraftlos war, dass sie oft beim Rennen über die Wiesen erschöpft zusammenbrach. Doch sie rannte und rannte immer weiter, wie auf der Flucht ohne zu wissen vor wem.

Eines Abend aber, als Lisanna sich wieder einmal vor dem Spiegel betrachtete, mürrisch und unzufrieden, voller Hass auf ihr Leben, ihre Freunde, ihre Familie und sich selbst, geschah wundersames.

Alles um sie herum begann sich zu drehen, ihr Zimmer, die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten wild durcheinander. Und auch ihr Spiegelbild drehte sich, schnell und immer schneller wirbelte alles durcheinander. Schneller, immer schneller und Lisanna hatte das Gefühl, in den Spiegel hineingezogen zu werden. Und tatsächlich wurde ihr schwarz vor den Augen, alles um sie herum verschwamm und als Lisanne wieder zu sich kam, war sie in einem fremden, ihr völlig unbekanntem Land.
Vor ihr sah sie eine kleine Stadt, erbaut aus Holzhütten mit strohgedeckten Dächern. Und zwischen den Hüten liefen die hässlichsten Menschen herum, die Lisanne jemals gesehen hatte. Dicke, dürre, große, kleine Leute mit verrunzelten Gesichtern voller Pickel und Warzen. Mit krummen Beinen, Nasen groß wie Kartoffeln und Ohren wie Elefantenohren. Angewidert und voller Mitleid mit diesen armen Geschöpfen ging Lisanna durch die Stadt. Doch seltsamerweise herrschte rund um sie fröhliches Treiben, waren die Bewohner der Stadt fröhlich und lachten miteinander. Es herrschte eine angenehme, entspannte Atmosphäre zwischen den Hütten.
Und es war mehr als seltsam. Ohne es zu verstehen oder es zu wollen, fühlte sich Lisanna sich völlig verwirrt und gleichzeitig auch geborgen und wohl wie lange nicht mehr. Obwohl sie Abscheu vor den hässliche Gestalten hatte fühlte sie sich irgendwie… ja sie konnte es nicht in Worte fassen, was sie in diesem Moment fühlte.
Doch genau in diesem Moment begann sich wieder alles um Sisanna zu drehen und bevor sie wusste wie ihr geschah veränderte sich die Umgebung erneut.

Sie stand jetzt inmitten einer riesigen Stadt mit hohen in die Wolken reichenden Gebäuden aus glänzendem Stahl.

In den Wänden der Gebäude spiegelte sich alles. “Eine Spiegelstadt” dachte Lisanna. Überall liefen Menschen herum, doch es war kein Geräusch zu hören. Alles war still, unheimlich still. Niemand redete oder lachte, die Menschen liefen mit starrem Gesicht, unbewegt und ausdruckslos durch die Straßen. Und alle Bewohner sahen gleich aus, vornehm und elegant gekleidet. Groß und schlank und wunderschön anzuschauen. Wie lebensgroße Barbiepuppen.
Und dann sah es Lisanna. In den Wänden der Häuser spiegelten sich die Menschen hundertfach, doch die Spiegelbilder zeigten Skelette. Skelette die geistergleich über die Wände der Stadt huschten. Und als Lisanna ihr eigenes Spiegelbild anschaute, sah sie dort ebenfalls ein Skelett, das sie aus toten Augenhöhlen mitleidig angrinste.
Vor Schreck fing Lisanna an zu laufen, nur fort, weit fort von dieser Stadt. Sie rannte und rannte, immer schneller und weiter ohne den Ausgang der Stadt zu finden. Bis sie irgendwann völlig erschöpft und verwirrt, vor Angst schweißgebadet in ihrem Bett erwachte. Hatte sie nur geträumt oder sollte sie das wirklich erlebt haben? Lisanna wusste es nicht, doch in den nächsten Wochen wiederholte sich diese seltsame Geschichte Abend für Abend und Lisanna wurde immer verwirrter. Heftige Bauchschmerzen quälten sie ständig, sie war schwach und kaum noch fähig zu essen, konnte nicht mehr zur Schule gehen und versteckte sich in ihrem Zimmer. Trotzdem rannte sie immer noch jeden Tag über die Wiesen, bis sie vor Schwäche umfiel.

Bis sie wieder eines Abends in der unheimlichen Spiegelstadt stand. Doch diesmal konnte sie sich nicht von der Stelle rühren, war wie gelähmt.
Die Spiegelbilder, nicht nur ihr eigenes schienen sie anzustarren aus toten leblosen Augenhöhlen und fingen plötzlich an schrill zu lachen. Laut und furchterregend.
Voller Angst presste Lisanna beide Hände fest auf ihre Ohren, doch das Lachen wurde immer lauter, schriller und schmerzte in den Ohren. Sie war vor Angst gelähmt und presste die Hände noch fester auf die Ohren, doch um so lauter und schmerzhafter wurde das Lachen.
Plötzlich zerbarsten die Wände der Häuser wie Glas und zerfielen mit einem lauten Knall in tausende von Scherben. Nichts blieb übrig von der Spiegelstadt ausser Bergen von Trümmern.
In diesem Moment erwachte Lisanna immer noch voller Angst in ihrem Bett, die Hände immer noch fest an die Ohren gepresst. Zitternd und mit letzter Kraft zertrümmerte sie mit einem Stuhl ihren Spiegel und fiel erschöpft auf ihr Bett in einen tiefen und erholsamen Schlaf.
Seit diesem Tag veränderte sich ihr Leben langsam wieder. Es dauerte lange, viele Wochen und mehr. Doch mit der Zeit lernte Lisanna wieder vorsichtig zu lächeln und die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Sie lief wieder langsam und barfuß über die Wiesen, fühlte die wärmenden Strahlen der Sonne und saß stundenlang am Ufer des kleine Sees. Doch ihr Spiegelbild traute sie sich nicht anzuschauen.
Und auch ihre Freundinnen und die Familie spürten die Veränderung. Es dauerte sehr sehr lange, doch irgendwann wurde aus Lisanna wieder das fröhliche und lebenslustige Mädchen von früher. Und immer häufiger hörte man auch wieder ihr wunderschönes glockenhelles Lachen über die Wiese erschallen.

Nur wer ihr jetzt tief, ganz tief in die faszinierenden tiefblauen Augen schaut, entdeckt dort immer noch einen Schimmer vergangener Traurigkeit.