Das verlorene Paradies

Kindergeschichte

Das verlorene Paradies

Diese Geschichte begann auf einer kleinen Insel, gelegen mitten in einem See, dessen Wasser klar und rein war. Man konnte bis auf den Grund des Sees schauen, in dem sich Schwärme prächtiger, bunter Fische tummelten.

Auf der Insel befand sich ein kleiner Wald mit hochgewachsenen Bäumen, zwischen denen zahllose Bäche leise rauschend dahinflossen. Grüne Wiesen voller bunter Blumen, zwischen denen farbenprächtige Schmetterlinge und Vögel aller Art hin- und her flogen, weite Felder goldglänzenden Weizens, die den Bewohnern der Insel Nahrung in Hülle und Fülle boten. Die Bewohner der Insel lebten in einer kleinen Stadt direkt am Wasser, gelegen am Rande des Waldes, in dem sie Pilze und Früchte aller Art sammelten. Die Bewohner, wir nennen sie das Volk der Kari, lebten in Frieden und Zufriedenheit miteinander. Die Natur bot ihnen alles, was sie zum Leben brauchten: Fische aus dem See, Früchte und Pilze aus dem Wald, Weizen für Brot auf den Feldern ringsumher, klares Wasser aus dem See oder den Bächen des Waldes. Rings um den See erhoben sich gewaltige Berge, welche die Insel vor Stürmen schützte. Daher kannten die Kari keine Unwetter, hier war es immer Sommer mit angenehmen Temperaturen. Nachdem sie tagsüber ihre Arbeit vollbracht und Vorräte gesammelt hatten, verbrachten sie den Abend am feinsandigen Strand, versammelten sich um ein Lagerfeuer und erzählten Geschichten, während die Kinder durch den Sand tobten. Oder schauten einfach in den mit tausenden von glitzernden Sternen übersäten Abendhimmel. So ungefähr muss das Leben wohl im Paradies sein. Eine kleine Brücke verband die Insel mit dem anderen Ufer des Sees. Doch kein Kari verließ die Insel, denn hier hatten sie alles, was sie brauchten.

Lange Zeit lebten die Kari zufrieden und glücklich auf ihrer Insel, bis eines Tages ein einsamer Wanderer über die kleine Brücke kam. Freundlich begrüßten ihn die Kari, boten ihm Essen und Trinken und feierten mit ihm ein Fest am Strand der Insel. Der Fremde erzählte viel, von einem wunderschönen Ort auf der anderen Seite des Sees. Von seltsamen Häusern mitten im Wasser, wunderschönen Landschaften und von Fischen, die noch nie ein Mensch gesehen hätte.
Am nächsten Morgen verliess der Fremde die Insel wieder und das gewohnte Leben auf der Insel ging weiter. Doch heimlich, in ihren Träumen, dachten die Kari an die Worte des Fremden. Sollte es am anderen Ufer des Sees wirklich das Paradies geben, eine Stadt wie sie noch keiner gesehen hatte? Es vergingen viele Tage und Nächte und immer unruhiger wurden die Bewohner der Insel. Unzufriedenheit verbreitete sich über die Insel. Jeder hatte das Gefühl, es fehle ihm etwas in seinem Leben. Vielleicht konnte man anderswo ein schöneres Zuhause finden, eine bessere Welt. Immer stärker wurde die Unzufriedenheit und das Leben der Kari veränderte sich. Es wurden keine Feste mehr gefeiert und wo früher die Kinder lachend im Sand tobten, saßen jetzt mit versteinerter Miene die Männer und Frauen der Stadt und schauten sehnsüchtig über das Wasser. Sollte dort, in weiter Ferne, eine bessere Welt darauf warten, entdeckt zu werden?
Schliesslich versammelten sich alle und beschlossen, ihre Stadt zu verlassen und fortzuziehen, auf der Suche nach dem wahren Paradies. Sie packten ihre Habseligkeiten und verließen ihre Stadt, überquerten zum ersten Mal in ihrem Leben die kleine Brücke über den See und zogen fort.
So wanderten sie viele Tage und Nächte, machten nur kurze Pausen. Denn alle wollten möglichst schnell ihr neues Zuhause erreichen, die geheimnisvolle Stadt mitten im Wasser. Und so wanderten die Kari lange lange Zeit, vorbei an grünen Feldern, kleinen Hügeln und gewaltigen Gebirgen, durchquerten tiefe, dunkle Wälder. Einige der Älteren starben unterwegs, den Mühen der Wanderung nicht gewachsen. Sie blieben zurück in schmucklosen Gräbern am Rande des Weges. Einsam und verlassen – sie würden das versprochene Paradies nie mehr erreichen. Und weiter zogen die Kari, immer weiter. Die Vorräte waren bereits verbraucht, die Kari waren schwach und müde geworden. Die Kinder weinten vor Hunger und Erschöpfung, doch es blieb keine Wahl. Der Weg zurück war zu weit, nur die Stadt im Wasser bedeutete die Rettung.
Und wirklich, als niemand mehr daran glaubte, tauchte in der Ferne die geheimnisvolle Stadt auf. Es waren seltsame Häuser, die da mitten im Wasser standen. Sie waren gebaut auf riesigen Holzpfählen, die aus dem Wasser hinausragten. Wie große Vogelkäfige, die über dem Wasser zu schweben schienen. Das Wasser erstreckte sich unendlich weit gen Horizont, unendlich weit. Kein Ufer war zu sehen am anderen Ende. Diesseits der Stadt verbanden hölzerne Brücken die Häuser mit dem Festland und auch zwischen den Häusern verliefen zahlreiche hölzerne Wege. Es war wirklich eine Stadt mitten im Wasser. Und als die Kari die Stadt erreicht hatten, ging die Sonne langsam unter und färbte den Himmel leuchtend rot. Es war ein wunderbares Bild: Der farbenprächtige Sonnenuntergang, der sich im klaren Wasser spiegelte und im Vordergrund die seltsamen Häuser, schwebend über dem klaren, reinen Wasser.

Ja, in diesem Moment der Rettung sahen die Menschen das Paradies vor sich, hier musste es sein.

Zu schwach und entkräftet, um die Stadt zu betreten, sanken die Kari zu Boden und schliefen ein. Am Ende ihrer Kräfte schliefen sie auf dem sandigen Boden am Rande des Wassers, um am nächsten Morgen ihr neues Zuhause zu betreten.
Am nächsten Morgen weckte die aufgehende Sonne die Schläfer und müde, aber voller Hoffnung betraten sie die Stadt. Die Häuser waren verlassen, doch in Körben, welche an der Decke herunterhingen, fanden sich Vorräte, Wasser und getrocknetes Brot. Dankbar versammelten sich die Kari in einem der größten Häuser, aßen und tranken und fühlten sich nach der langen Reise zum ersten Mal wieder glücklich. Sie hatten ihr langersehntes Ziel erreicht.
Nachdem sie sich gestärkt hatten, betrachteten sie in aller Ruhe ihr neues Zuhause. Die Häuser waren verschieden groß, aus Holz gebaut, mit runden Fenstern, aus denen man über die unendliche Fläche des Wassers schauen konnte. Stabile hohe Betten und ein paar riesige Kisten zum Aufbewahren der Kleidung standen in den Wohnräumen. Die bisherigen Bewohner der Stadt schienen hauptsächlich vom Fischfang gelebt zu haben, denn an jedem Haus waren mehrere Fischernetze befestigt, in denen zahlreiche, unbekannte Fische schwammen.
Mitten zwischen den Häusern erhob sich eine kleine Insel aus dem Wasser. Hier gab es kleine Weizenfelder, nicht groß. Aber groß genug, um Getreide für Brot zu ernten. Und in der Mitte der Insel sprudelte eine klare Quelle und lieferte reines Wasser zum trinken. So zogen die Kari in ihr neues Zuhause ein, verteilten sich auf die zahlreich vorhandenen Vogelkäfige -wie sie ihre neuen Wohnungen im Scherz nannten. Niemand fragte, wo die bisherigen Bewohner der Stadt geblieben waren. Jeder war froh nach der langen beschwerliche Reise eine neue Heimat gefunden zu haben.
Die Wochen vergingen und die Kari dachten oftmals wehmütig an ihr altes Zuhause, ihre Insel mit dem Wald voller gutschmeckender Früchte, den Wiesen voller bunter Blumen und Schmetterlingen, den goldgelben Weizenfeldern. Doch keiner wagte es, darüber zu sprechen. Auch nicht über die zurückgelassenen in ihren einsamen Gräbern irgendwo am Rande des Weges. Einsam und verlassen. Schließlich waren sie fortgezogen, ein besseres Leben zu finden und hatten sie nicht wirklich die seltsame, wunderschöne Stadt im Wasser gefunden? Mussten sie nicht dankbar sein, nach den langen Strapazen der Reise in dieser neuen Stadt mit offenen Armen empfangen worden zu sein?.
Und so lebten die Kari von nun an in den Holzhäusern über dem Wasser, ernährten sich vom Fischfang und den bescheidenen Ernten der Weizenfelder.
Manchmal versammelten sie sich in einem der großen Häuser und feierten gemeinsam ein Fest. Doch es war nicht wie früher und sie erzählten sich auch keine Geschichten mehr. Die alten Geschichten von früher wollte niemand mehr erzählen. Und neue Geschichten gab es keine zu erzählen. Deswegen waren die Feste kurz und nur selten war ein Lachen zu hören. Nur die Kinder in ihrer Unbefangenheit tobten manchmal auf den Brücken zwischen den Häusern herum, fielen ins Wasser und setzten dort ihr Spiel fort.

Die Zeit verging und das Wetter veränderte sich. Es wurde kälter und das Wasser stieg. Auf der sonst sanften Oberfläche bildeten sich hohe Wellen, die gegen das Holz der Häuser brandeten und sie zum erzittern brachten. Der Winter zog ins Land und brachte Schnee und Eis. Die Kari hatten noch nie einen Winter erlebt, sie besaßen keine warme Kleidung, hatten nur wenige Vorräte angelegt. Die Oberfläche des Wasser war inzwischen zugefroren, Fische verfingen sich nur noch selten in den Netzen und auf den Getreidefeldern wuchs kein Korn. In ihrer Not zogen die Kari gemeinsam in das größte Haus der Stadt, bauten einen kleinen Ofen, um sich zu wärmen. Da es kein Holz gab, zerstörten sie nach und nach die anderen Häuser der Stadt, die hölzernen Brücken und verbrannten diese. Nur so konnten sie die kalte Zeit überleben, gemeinsam versammelt um den einzigen selbstgebauten Ofen. Wie Vögel eingesperrt in einem riesigen Vogelkäfig.
Als endlich der Winter zu Ende ging und der Frühling kam, die Sonne das zugefrorene Wasser wieder auftaute und die Fischernetze sich wieder füllten, war die Stadt zerstört. Bis auf wenige Häuser war alles verbrannt. Die Menschen hatten überlebt, doch der Preis war hoch. Sollten sie alles wieder aufbauen, doch womit?

In diesen Tagen der Zweifel geschah es, das der einsame Wanderer, der ihnen von der Stadt im See erzählt hatte, plötzlich wieder erschien. Ohne sich zu wundern über die zerstörte Stadt setzte er sich zu den Menschen und fing erneut an zu erzählen von seinen Wanderungen. Von einer anderen Stadt. Riesig und unvorstellbar groß. Mit Häusern aus Stein und Stahl, einer überquellenden Fülle an Essen. Des Abends sei die Stadt in ein buntes Lichtermeer getaucht und Musik wäre in den Straßen zu hören. Die Menschen würden tanzen und jubeln, frei von Sorgen. Jeder Tag ein einziges Fest.
Und so geschah es, dass die Kari die wenigen ihnen verbliebenen Habseligkeiten packten und weiterzogen. Sie verliessen die zerstörte Stadt ohne noch einmal zurückzuschauen, enttäuscht und doch voller neuer Hoffnung. Hatte der einsame Wanderer ihnen doch Mut gemacht mit seinen Geschichten von der Stadt voller tanzender Menschen. Musikdurchflutet und voll überquellender Freude.
Die Kari wanderten weiter, immer weiter auf der Suche nach dem Paradies, einer neuen Heimat. Die Zeit verging, die Kinder wurden größer und viele der Alten starben auf dem langen Weg. Und auch sie blieben zurück in schmucklosen Gräbern am Rande des Weges. Einsam und verlassen – sie würden das versprochene Paradies nie mehr erreichen, wie schon so viele vor Ihnen. Die Kari zogen immer weiter, von Ort zu Ort. Sie blieben ein paar Wochen hier, ein paar Wochen dort. Sie lernten viele Orte kennen, übernachteten in Höhlen, auf sandigen Feldern und am Rande kleiner Seen.
Die Kari waren ein wanderndes Volk geworden, lebten von dem Wenigen, was sie unterwegs fanden. Es war eine lange und harte Zeit: Hunger, Durst, Kälte und Hitze begleiteten die Menschen auf ihrer Wanderung und je weiter sie zogen, desto mehr verschwand die Erinnerung der Kari an ihre ursprüngliche Heimat. Sie vergaßen ihre Wurzeln, ihre alten Geschichten, die sie früher am Lagerfeuer erzählt hatten.

Die Jahre vergingen bis eines Tages weit hinten am Horizont die Lichter einer riesigen Stadt zu sehen waren. Nur wenige der Kari konnten sich noch an die Erzählung des einsamen Wanderers erinnern. Doch diese wenigen riefen voll der Freude: “Dort am Horizont, das ist unsere neue Heimat, das gesuchte Paradies”.
Und so lief das Volk der Kari seinem Glück entgegen, der Stadt voller Musik und Freude.
In der Ferne glitzerten am nächtlichen Himmel die bunten Lichter einer großen Stadt. Leise wehte der Abendwind die leisen Klänge sanfter Musik herüber. Über der Stadt funkelten hunderte, nein tausende von Sternen und der Vollmond tauchte alles in ein mildes Licht. Dort endlich musste die neue Heimat der Kari liegen. Ja, so mußte es sein. Eine riesige Stadt voller Leben und Musik, mit tanzenden, lachenden und singenden Menschen in den Straßen.
Voller Hoffnung zogen die Kari weiter Richtung Stadt. Es war noch ein weiter Weg, doch die Hoffnung auf das ersehnte Paradies verlieh ihnen Flügel. Alles Leiden, alle Sorgen waren vergessen. Nur die Zukunft war jetzt wichtig, ein neues Leben in Zufriedenheit.
Und so kamen die Kari der Stadt immer näher während der neue Tag begann. Die Sterne am Himmel waren verschwunden, die Sonne hatte den Mond abgelöst und schickte ihre immer heißer werdenden Strahlen zur Erde. Die nächtlichen bunten Lichter waren erloschen, ebenso die sanfte Musik der Nacht. An ihre Stelle traten andere, den Kari unbekannte Geräusche.
Staunend und ehrfürchtig betraten die Kari, was ihnen nur aus Geschichten bekannt war: die große Stadt.
Riesige steinerne Betonklötze zwischen denen sich breite schwarze Bänder aus Asphalt schlängelten. Unzählige stählerne Kolosse -Autos-LKW´s-Busse- fuhren über diese Bänder. Hupen, Geschrei und das Röhren großer Motoren lag in der Luft. Aus offenen Fenstern drangen laute schrille Musik, Schreien, Weinen und vereinzelt auch Kinderlachen. Der Lärm lauter Fernseher, das Gekreische einer Säge und viele andere den Kari unbekannte Geräusche. Ein Polizeiwagen fuhr mit lauter Sirene vorbei und ließ alle vor Schreck zusammenzucken.
Staunend und verwirrt zogen sie weiter durch die Straßen. Viele Gerüche lagen in der Luft: Der Geruch von gebratenem Fleisch und Kartoffeln, viele andere unbekannte Düfte und vor allem der Dunst, welcher aus den hohen Schornsteinen der Häuser und aus den tausenden von Autos herüberwehte, hoch in den Himmel zog und dort als milchig-trübe Wolke die Sonne verdeckte. All das war für die Kari fremd und unbekannt. Schweigend zogen sie weiter. Durch eines der großen Fenster sahen sie viele Menschen zu lauter Musik tanzen mit seltsamen Bewegungen. Doch die Menschen lachten und sangen nicht, sondern machten schweigend und mit steinerner Miene ihre seltsamen Bewegungen. Es schien sie viel Kraft und Mühe zu kosten und keine Freude zu bereiten. Über dem Fenster stand in bunten Buchstaben “Fitnesscenter”

Auf einer Wiese spielten Kinder mit einem Ball. Doch auch sie lachten nicht und mehrere Erwachsene schrien ständig mit strengem Gesicht herum, “sie sollen schneller laufen, abgeben, rechts laufen, links laufen und so würden sie doch nie gewinnen”.
Alles war seltsam, unwirklich und vor allem: Keine tanzenden und lachenden Menschen. Viele der an ihnen vorbeihastenden Stadtbewohner schauten sie verwirrt an. “Zigeunerpack, verschwindet”, schrie sie einer an. “Wir sind nicht vom Stamm der Zigeuner- wir sind vom Stamm der Kari”, erwiderten sie erstaunt ohne eine Antwort zu erhalten.
Ratlos und verwirrt kamen die Kari schließlich an einen verlassenen Platz am Rande der Stadt. Hier standen einige verlassene, schmutzige Wellblechhütten. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen, ein kalter Wind blies den erschöpften Wanderern ins Gesicht. Und so verbrachten sie ihre erste Nacht in diesen schmutzigen Hütten, die ihnen wenigstens etwas Schutz boten. Noch lange redeten sie über ihre neue Umgebung. Alles war anders als erwartet. Eigentlich wussten sie nicht was sie erwartet hatten. Wo sollten sie leben, was sollten sie essen. Es gab hier keine Fische, kein Wild, keine Früchte, nicht zu essen. In der Stadt gab es zwar jede Menge Nahrung, doch die Stadtbewohner gaben nichts davon ab. Sie wollten Geld dafür haben. Doch Geld -was immer das auch sein sollte- hatten die Kari nicht.
In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten lernten die Kari, was Geld bedeutete. Das sie dafür schwere Kisten und Säcke schleppen mussten. Sie beseitigten dafür den Müll der Stadtbewohner und verrichteten niedere Arbeiten. Die Kinder begannen vor den Geschäften zu betteln und so lernten die Kari, in der großen Stadt zu überleben. Die armseligen Wellblechhütten am Rande der Stadt wurden ihr neues Zuhause. Es war ein hartes und freudloses Leben und die Kari lachten und tanzten schon lange nicht mehr. Manchmal sahen sie in der Stadt singende und tanzende Menschen. Doch diese lebten hinter hohen Zäunen und Mauern, auf denen stand “Betreten verboten, nur für Mitglieder, Privat” Nur selten versammelten sie sich Abend um ein großes Feuer und schauten schweigend in die wärmenden Flammen. Geschichten hatten sie keine mehr, die es sich lohnte zu erzählen. Die Jahre vergingen, viele Kari waren gestorben und viele neu geboren, die Vergangenheit nicht wert, sich daran zu erinnern. So vergaßen die Kari, woher sie kamen, ja sogar ihre Namen. Und so vergingen weitere Jahre, eine Zeit harter Arbeit und schwerer Krankheiten in den schmutzigen Wellblechhütten.
Eines Abend, als die Kari schweigend um ein großes Feuer versammelt waren, betrat ein einsamer, schwarz gekleideter Fremder ihre Mitte. Er erzählte von einem wunderbaren Land, mit klaren Seen voller Fische, von blühenden Weizenfeldern und Wäldern voller Früchte, saftigen Wiesen, über denen bunte Schmetterlingen schweben. Die Luft klar und rein und erfüllt vom Gesang der Vögel. Doch die wenigsten hörten ihm zu, viel zu hoffnungslos und entmutigt ergaben sie sich in ihr Schicksal. Nur einige der Alten konnten sich an alte Geschichten erinnern, an einen seltsamen Fremden.

“Wer bist du, seltsamer Fremder?”, fragten sie.
“Ich habe keinen Namen und doch so viele”, entgegnete dieser. “Man nennt mich Hoffnung, Neugier, Verzweiflung, Unzufriedenheit, Schicksal, Gier. Manche rufen mich sozialer Fortschritt oder moderne Wissenschaft, für einige bin ich der Teufel, die Geisel der Menschheit. Für andere bin ich die letzte Rettung, die große Chance, die Freiheit, die Suche nach dem Sinn des Lebens, ihre Religion. Ich bin alles, was Menschen bewegt, weiter zu ziehen und etwas zu verändern. Ich erzähle euch Lügen, mache euch etwas vor, zeige euch Vergangenheit und Zukunft, spiegele eure geheimsten Wünsche und Sehnsüchte. Ich rette euch vor der Gleichgültigkeit und kann euer Untergang sein.”
Mit diesen Worten verschwand der Fremde und ließ die verwirrten Alten zurück.
Viele Tage und Nächte berieten die Alten, riefen Versammlungen ein.
Was sollten sie tun? Ihr jetziges erbärmliches Leben weiterführen? Sich auf die Suche machen? Was, wenn sie den Schutz ihrer armseligen Hütten verlassen würden und draussen vor der Stadt noch Schlimmeres auf sie waren würde? Würden sie alle sterben oder eine bessere Zukunft finden?
Sie waren hungrig, hatten nur noch das nackte Leben. Doch war nicht auch das Leben an sich schon genug? Was wenn sie nun auch diese noch verlieren würden?

Es dauerte lange, sehr lange! Doch schließlich brachen die Kari auf und zogen fort. Sie brauchten keine Taschen, denn außer Wasser und ein bisschen Brot hatten sie keine Reichtümer mehr.
So zogen sie weiter, einer ungewissen Zukunft entgegen. Seltsamerweise fühlten sie sich erleichtert, kaum dass sie die Stadt verlassen hatten. Niemand konnte diese Gefühl der Erleichterung verstehen. Sie hatten nichts mehr außer dem nackten Leben, etwas Brot und Wasser. Keine Zukunft, kein Schutz vor Regen und Unwetter. Und doch waren sie froh, ihrem jetzigen Leben zu entfliehen.
Und so machten sie sich auf die Reise in eine unbekannte Zukunft. Immer weiter fort von der Stadt, die ihnen einst das Paradies versprochen hatte.
Niemand wusste nachher, wie lange es gedauert hatte, bis die Landschaft sich veränderte. Auf den trockenen dürren Feldern wuchs erst spärlich, dann immer mehr goldener. kräftiger Weizen. Die Luft erschien ihnen klaren und frischer. Die Wiesen wurden grün und waren bewachsen mit bunten Blumen, über denen zarte Schmetterlinge schwebten. Nicht lange später erreichten sie ein riesiges Gebirge, in dessen Schutz sich ein riesiger See schmiegte, mit Wasser rein und klar. Über den See führte eine Brücke hinüber auf eine Insel mitten im See. Hastig und voller Ungeduld überquerten sie die Brücke, um auf der anderen Seite mit offenem Mund staunend stehen zu bleiben. Ein wunderbarer Anblick bot sich ihnen. Am Rande eines Wäldchens erhob sich eine kleine Stadt, deren Mauer bewachsen waren mit Pflanzen aller Art, deren bunte Blüten einen zarten, angenehmen Duft verbreiteten. Eine Stadt, geschützt durch hohe Bäume, in der Nähe eines wunderschönen Strandes. Ringsumher bot die Natur eine unerschöpfliche Fülle köstlicher Speisen. Im klaren Wasser des Sees tummelten sich riesige Fischschwärme. Überall wuchsen Beeren, Pilze und Früchte, goldener Weizen blühte auf den Feldern rings um die Stadt. Und zwischen den Bäumen schauten neugierig Tiere jeder Gattung hervor. Hirsche, Wildschweine und Hasen konnten sie entdecken. Die Stadt schien nur darauf zu warten, ihre neuen Einwohner Willkommen zu heißen. Andächtig und mit Freudentränen gefüllten Augen sanken die Menschen in den feinkörnigen Sand und dankten ihrem Schicksal. Sollte das Schicksal es wirklich gut mir Ihnen meinen, sollte hier das Ende einer langen Reise sein?
Die Kinder stürzten sich als erste in das warme. klare Wasser des Sees, naschten von den Beeren und Früchten und nahmen die Stadt in Besitz. Irgend etwas sagte ihnen: Hier ist unsere neue Heimat, hier werden wir glücklich.
Es dauerte nicht lange und sie hatten sich eingelebt, das Leid ihrer langen Wanderung vergessen. Die einst verlassene Stadt war erfüllt von neuem Leben. Abends versammelten sich die Kari am Strand um große Feuer, erzählten Geschichten während die Kinder lachend am Strand tobten.
Die Brücke über den See hatten sie zerstört. Niemand wusste warum, doch die Alten hatten es so gewollt. Doch es hatte auch keinen Grund gegeben, es nicht zu tun. Hier auf dieser Insel wollten sie bleiben, für immer.
Irgendwann fanden sie am Rande der Stadt einen riesigen Stein, in den mit großen Buchstaben eingemeiselt war “ Hier lebt das Volk der Kari” Und so nannten sich die Bewohner der Stadt ab diesem Zeitpunkt wieder. Das Volk der Kari. Und sie haben nie verstanden, was die Bewohner dieser wunderschönen Stadt wohl bewegt haben mochte, sie zu verlassen.
Und so lebten die Kari glücklich und zufrieden in ihrem kleinen Paradies. Niemand hatte sie mehr gesehen, nur wer genau hinhörte, konnte lautes Lachen und Singen über den See erschallen hören. Glücklich und zufrieden bis auf den heutigen Tag in ihrem Paradies

Heute jedoch, genau Heute sehen ein paar Kinder, die fröhlich im Sand spielten, am anderen weit entfernten Ufer des Sees etwas seltsames! Eine große, schwarzgekleidete Fremde, die ihnen fröhlich und auffordernd zuwinkt……….